FOOTBALL`S COMING HOME... UNSER GELIEBTER FUßBALL AUS DEN UNTEREN LIGEN


Berichte über unseren geliebten Amateur-Fußball aus dem Herzogtum Lauenburg, der Hansestadt Lübeck und der Verbandsliga Süd-Ost... und natürlich aus dem Mutterland des Fußballs...

Freitag, 24. Oktober 2008

Happy Birthday Matt le Tissier

Ein Gott für die Heiligen

Matt le Tissier kam als junger Mann von den Kanalinseln und wurde zur Ikone beim FC Southampton. Die Fußball-Welt hat »Le God« mit Traumtoren verzückt. Nun wird er so alt, wie er immer schon aussah: 40 Jahre.

Ein kitschigeres Ruhrstück hätte sich auch Kai Pflaumes »powered by emotion«-Redaktion nicht ausdenken können: Am 19. Mai 2001 trifft der FC Southampton im heimischen »The Dell« auf den FC Arsenal aus London. Es ist der letzte Spieltag der Saison. Dies wird kein alltägliches Premier-League-Spiel für die »Saints«, wie Southampton in England gerufen wird. Matt le Tissier ist nach langer Verletzungspause wieder einsatzbereit, Mitte der zweiten Halbzeit steht er am Spielfeldrand und wartet auf seine Einwechslung. Matt le Tissier: So einen wie ihn hat der Klub noch in seiner über 100-jährigen Historie noch nicht gesehen. Ein Anarchist auf dem Platz, »a genius«, wie Kollege Paul Gascoigne »le Tiss« bewundernd nennt. Seine Tore: ein Genuss. Einzigartig in ihrer Kreativität und Vollendung. Die Fans der »Saints« sind am 19. Mai 2001 nach 90 Minuten fast »overpowered by emotion«, kleinen Jungs und bulligen Glatzköpfen mit Stiernacken stehen die Tränen in den Augen. Sie haben einen guten Grund zum Heulen.

Wer ist dieser komischer Kerl mit der großen Nase, dem etwas zu groß gewachsenen Kopf und den staksigen Bewegungen, der aber in jeder Situation auf dem Fußballplatz das Richtige zu tun scheint? Das fragen sich auch die Verantwortlichen vom englischen Traditionsverein FC Southampton, spätestens als im Frühjahr 1985 der U-15-Nachwuchs von Vale Recreation die »Saints«-Jugend auseinander nimmt, und der Junge mit den langen Beinen die verdatterten Gastgeber mehr als ein halbes Dutzend Mal böse narren kann. Der Ruf eilt dem Extravaganten voraus: Für Vale soll er regelmäßig mit direkt verwandelten Eckstößen Tore erzielt haben. Mario Basler (im Übrigen der gleiche Jahrgang wie le Tissier) lässt grüßen.

Über Jahre hinweg verkannt

Vale Recreation, Matts Heimatverein auf den Kanalinseln. Dort wird Matthew Paul le Tissier am 14. Oktober 1968 geboren. Dieses merkwürdige Völkchen von der Inselgruppe ist den Briten suspekt, dürfen sich die Bewohner ihre Staatsangehörigkeit doch selber aussuchen. Nur wenige Jahre später, le Tissier gilt bereits als einer der raffiniertesten Offensivspieler im englischen Fußball, buhlen die Nationalteams um den Stürmer. »Le Tiss« entscheidet sich für England und gegen Frankreich – und wird zum Dank dafür über Jahre hinweg verkannt. Doch dazu später mehr. Southampton sichert sich diesen Rohdiamanten von der Insel Guernsey und macht ihn zum Profi. Am 2. September 1986 gibt er sein Debüt und spielt sich spätestens dann in die Herzen der Fans, als er in einem späteren Ligaspiel der Saison einen Hattrick gegen Leicaster erzielt. Doch nicht irgendeinen Hattrick: Die Spielfläche ist von Schnee bedeckt, die Partie erinnert zeitweise mehr an »Stars on ice« als an ein normales Ligaspiel. Nur der Junge von den Kanalinseln gleitet elegant durch das weiße Pulver und erzielt drei aufregende Tore.

Vier Jahre später ist der talentierte Schlacks bereits eine feste Größe bei den »Saints«. Sein Trainer überträgt ihm die Verantwortlichkeit bei Strafstößen. Bis zu seinem Karriereende tritt der beidfüßig begabte Offenspieler 49-Mal an den Punkt. Matt wird sie alle verwandeln. Nun ja, nicht ganz. Einzig dem international wenig bekannten Mark Crossley gelingt, es einen Elfmeter abzuwehren. Als Crossley den Ball pariert ist das Stadion paralysiert, nur le Tissier muss später grinsen. Der Schalk sitzt dem Insulaner im Nacken, zudem ist seine Spielweise geradezu provokant exotisch, oft sieht man ihn nur über den Platz schlendern, als befände er sich gerade beim Weihnachtseinkauf. Die Folge: Seine Kritiker werfen ihm eine schlampige Spielweise vor, wollen ihn rennen und schnaufen sehen, wie all die anderen Kraftpakete auf englischen Fußballplätzen. »Le Tiss« antwortet mit Toren, 162 erzielt er in der Liga, 47 weitere gelingen ihm in den diversen Pokalwettbewerben.

Ungezählt hingegen sind seine Geniestreiche, sagenhafte Dribblings, die sich jeder vernünftigen Erklärung entziehen. Er ist nicht schnell, wie Kevin Keegan, die »Mighty Mouse«, nicht so geschmeidig wie der Franzose Zidane, nicht so fintenreich wie seinerzeit Ronaldo. Er ist »Le God«, wie ihn die Fans rufen. Sie liegen ihm zu Füßen, wenn er wieder einmal eines seiner fantastischen Tore erzielt hat. Er braucht nur kurz mit dem Hintern zu wackeln, seine Beidfüßigkeit geschickt einzusetzen, wenige Täuschungsmanöver um die hochgezüchteten englischen Verteidiger wie Besucher einer Tupper-Party aussehen zu lassen. Seine imposanten Slalomläufe weiß le Tissier oft mit großartigen Schüssen abzuschließen, von ihm getretene Bälle scheinen langsam durch die Luft zu gleiten, um dann doch in einem perfekten Bogen im Tor einzuschlagen.

Längst sind seine schönsten Tore auf diversen Internetportalen oder Videos veröffentlicht. Sie zu beschreiben wäre nur ein fauler Versuch, die atemberaubende Kreativität in Wörter und Sätze zu bannen, sie zu sehen ist ein außerordentlicher Genuss. In der Saison 1995/96 versenkt er einen 40-Meter-Lob gegen die Blackburn Rovers, der Treffer wird zum »Goal of the season« gekürt. Der »Saints«-Angreifer gehört mittlerweile zu den aufregendsten Spielern, die das Königreich zu bieten hat, das sehen sie nicht nur im »the Dell« so. Bereits 1994 darf le Tissier zum ersten Mal das Trikot mit den »Three Lions« berufen, doch die Verantwortlichen um die Nationaltrainer Terry Vanables und Glenn Hoddle scheinen den Kompetenzen von »Le Tiss« nicht ganz zu vertrauen. Bis zu seinem Ende seiner internationalen Karriere 1998 bestreitet le Tissier nur magere acht Länderspiele. Ein Witz.

Zur nationalen Schande wird es, als der Venables-Nachfolger Hoddle le Tissier nicht für die Weltmeisterschaft 1998 nominiert. Und das, obwohl »Le God« kurz zuvor im Spiel der B-Mannschaften einen Hattrick gegen Russland erzielt hat und in demselben Spiel sogar noch zweimal die Latte trifft. Hoddle, der die Tore im Stadion verpasst hat, berücksichtigt ihn nicht einmal für den vorläufigen 30-Mann-Kader. Die englische Fußballseele kocht, zumal die nationale Auswahl in Frankreich erwartungsgemäß scheitert. Der Betroffene selbst bleibt sachlich und betont später nüchtern: »Wahrscheinlich hätte ich mehr Spiele gemacht, wenn ich mich für Italien oder Frankreich entschieden hätte«

»He gets the ball, he takes the piss! Matt Matt Le Tiss!«

Auf Vereinsebene bleibt le Tissier hingegen ein umschwärmter Ausnahmekönner. Ein Wechsel zu den Tottenham Hotspurs scheitert Mitte der Neunziger an den finanziellen Möglichkeiten der »Spurs«, auch Manchester United und der FC Chelsea buhlen um seine Dienste. Vergebens. »Le Tiss« bleibt Southampton treu und avanciert damit zu Ikone. Chelseas Ex-Manager Matthew Harding wird später mit der Behauptung zitiert, dass er für die Verpflichtung von le Tissier den damaligen Transferrekords des Vereins gebrochen hätte. Doch die »Saints« behalten ihren Gott und zelebrieren für ihr Idol ein würdiges Tribünen-Choral: »Le Tiss!
Le Tiss! Matt Matt Le Tiss! He gets the ball, he takes the piss! Matt Matt Le Tiss!« Im Spätherbst seiner Karriere zwingen ihn hartnäckige Verletzungen immer häufiger auf die Bank, er wird dennoch 540 Pflichtspiele für seinen Verein absolvieren, dem er bis zu seinem Karriereende nach der Saison 2001/02 treu bleibt.

Am 19. Mai 2001 erheben sich die Zuschauer im altehrwürdigen »The Dell« von ihren Plätzen. Am Seitenrand lockert Matt le Tissier noch einmal kurz die Muskeln, ein kurzer Sprint auf den Platz, der Gruß für die Anhänger, und der mittlerweile 32-Jährige ist in seinem Element. Es steht 2:2, der Favorit aus London macht das Spiel, doch das Spiel entscheidet le Tissier. Da steht er, auf Höhe des Elfmeterpunkts, der Ball fliegt in seine Richtung. »Le Tiss« hat den Kopf oben, dreht sich unmerklich und hämmert den Ball mit linken Fuß aus der Drehung am verdutzten Arsenal-Keeper Jens Lehmann ins Netz. Die »Saints« gewinnen 3:2, ihr Liebling hat getroffen. Was sie noch nicht wissen können: Arsenal wird anschließend eine nie zuvor da gewesene Serie starten und ein Jahr lang kein Spiel mehr verlieren. Und: Matthew le Tissier hat sein letztes Tor erzielt.

Im März 2002 gibt »Le God« sein Abschiedsspiel, 30.000 Menschen sind ins »The Dell« gekommen, um Southampton gegen die England All Stars zu sehen. Als Matts kleiner Sohn ein paar Tore schießen darf, dröhnt die Masse: »Sign him up!«. Doch auf einen Nachfolger des listigen Nationalstürmers, der heute für den Sender Sky Sports berichten darf, müssen die »Saints« wohl noch lange warten. So ein Gott kommt schließlich nicht alle Tage.