FOOTBALL`S COMING HOME... UNSER GELIEBTER FUßBALL AUS DEN UNTEREN LIGEN


Berichte über unseren geliebten Amateur-Fußball aus dem Herzogtum Lauenburg, der Hansestadt Lübeck und der Verbandsliga Süd-Ost... und natürlich aus dem Mutterland des Fußballs...

Freitag, 14. Mai 2010

25 Jahre nach dem »Valley Parade Fire Disaster«


Der 11. Mai 1985 sollte als Feiertag in die Geschichte der englischen Stadt Bradford eingehen – und endete mit einer der schlimmsten Katastrophen der Fußball-Geschichte. 56 Menschen starben beim »Valley Parade Fire Disaster«.


Schönes Wetter sind die Einwohner von Bradford nicht gewöhnt. Hier, im Norden Englands, ist das Klima rau und der Regen ein ständiger Besucher. Am 11. Mai 1985 scheint die Sonne, die Luft ist warm. Ein wunderschöner Tag! Wie passend, denn die Stadt hat etwas zu feiern: Der Bradford City Football Club hat sich den Titel der Third Division gesichert, 48 Jahre lang hat die Stadt hungern und dursten müssen – jetzt werden die »Bantams« wieder in der Second Divison spielen. Und die halbe Stadt hat sich vorgenommen, das heute, an diesem sonnigen 11. Mai 1985, zünftig zu feiern. Auch Joyce Reisner ist auf dem Weg ins Valley Parade Stadion. Die 55-jährige Britin ist im sechs Meilen entfernten Wilsden geboren Für diesen besonderen Tag ist sie extra aus Hamm in Westfalen angereist. Gemeinsam mit Oberbürgermeisterin Sabine Zech und Dezernent Reinhard Stadali ist sie eine von drei Ehrengästen aus Bradfords Partnerstadt in Deutschland. Joyce war ein Schulmädchen, als sie auf einem deutsch-englischen Schüleraustausch Jockel Reisner kennenlernte – aus der Jugendliebe wurde eine Verbindung fürs Leben, das Paar hob später die Städtefreundschaft zwischen Bradford und Hamm aus der Taufe. Am 11. Mai ist sie wieder in der Heimat. »Das Wetter war herrlich und die ganze Stadt war in Volksfeststimmung. Jeder wollte zu diesem Spiel im Valley Parade.« Joyce Reisner und ihre deutschen Begleiter gehören zu den letzten Gästen, denen der Klub Tickets hinterlegt.



Um 15 Uhr Ortszeit pfeift Schiedsrichter Don Shaw die Partie an. Lincoln City ist zu Gast in Bradford. Auch auf dem Rasen herrscht Stimmung wie auf einem Betriebsausflug. Für Lincoln ist die Saison ebenfalls vorzeitig beendet, der sichere Mittelfeldplatz bedeutet die Erfüllung sämtlicher Saisonziele. Es geht um nichts mehr. Die Kassen zählen 11.076 Zuschauer, doppelt so viele wie beim bestbesuchten Spiel der gesamten Saison. Bradfords Kapitän Peter Jackson, ein Sohn der Stadt, stemmt vor den johlenden Massen die Champions Trophy. Die Mannschaft entrollt ein Spruchband: »THANK YOU FANS!« und läuft eine Ehrenrunde. Stuart McCall ballt die Faust und grüßt seinen Vater auf der Haupttribüne. Vater McCall platzt fast vor Stolz. Mit ihm sitzen an diesem Nachmittag noch 3000 andere Menschen auf der hölzernen Tribüne. Joyce Reisner ist eine von ihnen. »Um uns herum waren vor allem Familien. Kleine Kinder, Frauen, alte Männer. Viele von ihnen waren das erste Mal in einem Fußball-Stadion.« Heute sind sie alle da. Wie Martin Fletcher, 12 Jahre alt. Neben ihm sitzt der ganze männliche Fletcher-Clan. Sein Bruder Andrew, Vater John, Onkel Peter und Eddie, Martins Großvater. Die Fletchers stampfen mit ihren Füßen auf die Holz-Bohlen, als das Spiel beginnt.


Das Valley Parade Stadion ist für europäische Groundhopper ein echter Hingucker. Seit der Fertigstellung 1911 hat sich am Valley eigentlich nichts geändert. Die Haupttribüne, ein hölzerner Koloss, gehört zu Bradfords Wahrzeichen. Anfang der achtziger Jahre werden allerdings Warnrufe laut, das Stadion sei längst überfällig für eine Renovierung. Fans bemängeln, dass der Klub keine Mülleimer auf der Tribüne aufgestellt hat. Der Abfall vieler Spieltage hat sich unter der hölzernen Konstruktion angehäuft. Im Juli 1984 fordert ein Team aus Bauinspekteuren den sofortigen Umbau. »Eine unachtsam weggeworfene Zigarette könnte ein Feuer auslösen.« Die Antwort heißt Stahl. Gleich nach Saisonende will der Aufsteiger mit den Renovierungsmaßnahmen beginnen. Die Träger für die Haupttribüne liegen schon bereit, gleich neben dem Parkplatz. Aber am 11. Mai 1985 soll keine Baustelle, kein Absperrband die Party zerstören. Den größten Vereinserfolg seit fast 50 Jahren will man auf der historischen Bühne feiern.



40 Minuten sind in Bradford gespielt. Immer noch steht es 0:0. Ein trüber Kick, aber die Zuschauer feiern ihre eigene Party. Joyce Reisner verfolgt das Spiel trotzdem mit voller Aufmerksamkeit. Die Britin liebt Fußball, ebenso wie ihr Mann Jockel. Doch den Künstler aus Hamm hat sie in Deutschland gelassen – er hat an diesem Tag selbst ein wichtiges Fußballspiel. Die deutsche Delegation bekommt Besuch: Ein Offizieller des Vereins steht auf den Stufen und wedelt mit den Armen, Tee und Kekse für die Gäste aus Germany sind im Vereinsheim angerichtet. »Es waren noch fünf Minuten zu spielen«, erinnert sich Joyce Reisner, »ich wollte noch nicht gehen.« Letztlich siegt Höflichkeit vor Begeisterung. Als sie sich von ihrem Platz erhebt, sieht sie Rauch aufsteigen aus dem Bauch des hölzernen Sitzplatz-Ungetüms. Wenige Meter vor ihr kriecht der Qualm aus den Ritzen. »Das war mir nicht geheuer, aber gleich daneben stand ein Polizist. Ich war mir sicher, dass das Problem gleich wieder beseitigt sein würde.« Der Gast aus Deutschland folgt dem freundlichen Herren aus Bradford ins Vereinsheim.


Martin Fletcher sitzt mit Bruder, Vater, Onkel und Großvater weiterhin auf der Tribüne. Der Qualm wird jetzt stärker, junge Polizisten bitten nun auch die Fletchers, ihre Plätze zu verlassen. »Ich war mir sicher, dass die Feuerwehr das kleine Feuer schnell wieder beseitigen und uns wieder auf unsere Plätze lassen würde«, sagt der junge Stadionbesucher später. Martin und seine Familienmitglieder verlassen ihren Bereich und werden in Richtung der schon überfüllten Stufen gedrängt. Als sich der Zwölfjährige umdreht, zischen meterhohe Flammen an den Plastiksitzen empor. »Unwillkürlich fing ich an zu fluchen, mein Vater zog mir am Ohr.« Erst jetzt beendet Schiedsrichter Don Shaw das Spiel, die Stadionuhr zeigt 15:41 Uhr an. Die Fußballer auf dem Rasen sehen dichten Qualm und Flammen. Die Tribüne brennt. Stuart McCall sucht seinen Vater. Er findet ihn nicht.




Christopher Hammond, ein junger Bradfordian, steht mit seinem Vater Tony nur wenige Meter von den ersten Feuerstößen entfernt. Seine Füße werden langsam heiß. Er sieht eine große Gruppe Anhänger, die sich in Richtung des hinteren Teils der Tribüne flüchtet. »Glücklicherweise wurden wir mit anderen Fans nach unten gedrückt. In Richtung des Spielfelds.« Tony Hammond schnappt sich seinen Sohn. Normalerweise sitzen er und Chris auf der anderen Seite des Stadions, die Tickets für den Main Stand hatte er nur auf Drängen seiner Frau gekauft. Dort sei es sicherer. Tony wirft seinen Jungen über die Bande auf das Spielfeld, bloß weg von der Hölle, die vor wenigen Minuten noch eine Sitzplatztribüne war. »Er hätte sich den Arm brechen können«, erinnert er sich später, »aber alles, was ich wollte, war, ihn hier raus zu schaffen. Und als ich ihn raus bekommen hatte, dachte ich: `Du wirst hier nicht lebendig rauskommen´.« Um 15:43 Uhr geht in der Feuerwehrzentrale von Bradford ein Notruf ein. Valley Parade brennt. Viele der Kollegen sind längst im Stadion – vor den Anpfiff hatten sie Eintrittskarten für ein Benefizspiel am Tag nach dem Saisonfinale verkauft. Die Feuerballen auf der Haupttribüne haben längst das Dach erreicht. Die Mischung aus Harz und Pech der Dachpappe sind ein grausames Gemisch – in Sekunden verwandelt sich die komplette Tribüne in ein explodierendes Feuermeer. Giftiger schwarzer Qualm taucht das komplette Gelände in eine todbringende Nebelsuppe. Der Rauch strömt den flüchtenden Menschen in die Nasen und Münder. 43 Menschen sterben an Rauchvergiftung. »Der Qualm war das Schlimmste«, sagt Joyce Reisner, die Britin aus Deutschland.



Reisner und ihre Begleiter rennen. Die plötzliche Hitze hatte Scheiben im Klubhaus splittern lassen, die Menschen werden panisch. Ein junger Steward weist dem Trio aus Hamm einen Weg in die Freiheit. Im Laufschritt erreichen sie schließlich den Platz vor dem Stadion, sie rennen weiter. Das Klubhaus steht in Flammen. »Mein Mann hat mich in Hamm immer zum Joggen mitgenommen. Später haben wir gewitzelt: Er hat mir das Joggen beigebracht, damit ich aus dieser Hölle flüchten konnte.« Schwarzer Humor gegen die Erinnerungen. Viele ihrer Tribünennachbarn hatten nicht mal die Chance zu flüchten – das gewaltige Feuer hatte ihre Körper auf den Plastikstühlen fest geschmolzen. Martin Fletcher ist noch auf der Tribüne. Wo ist seine Familie? Er brüllt nach seinem Vater und bekommt keine Antwort. Ein Pulk von Menschen reißt den zwölfjährigen Fußball-Fan mit und findet endlich einen offenen Ausgang. Inmitten von panischen Körpern wird Martin auf den Rasen gespült und damit in Sicherheit. Einige Fans brennen an Haaren und Jacken, sie wälzen sich wie Käfer auf dem Rasen. Einige Meter entfernt schlendert ein alter Mann durch den Strafraum. Er steht komplett in Flammen. Andere Fans stürzen sich auf die menschliche Fackel und versuchen mit ihren Jacken das Feuer auszuschlagen. »Er sah aus, als würde er einen kleinen Spaziergang machen«, berichtet später ein Augenzeuge unter Tränen, »er schien einfach nicht zu realisieren, was mit ihm geschah.« Die TV-Kameras filmen die unwirkliche Szenerie, die Bilder gehen live in das ganze Land. Alle Hilfe kommt zu spät – der Mann stirbt Stunden später im Krankenhaus an seinen schweren Verbrennungen. Martin Fletcher sieht die Szene nicht. »Gleich als wir in Sicherheit waren, wurde uns gesagt, dass jeder auf der Tribüne erfolgreich hätte fliehen können.« Zwei Tage später werden vier weitere Leichen identifiziert. Es sind Andrew, Edmond, John und Peter Fletcher.


Christopher Hammond hat Glück – er sieht seinen Vater lebendig wieder. Nachdem er seinen Sohn wie einen Rucksack über die Bande geworfen hatte, rettet sich auch Tony Hammond. »Ich war mir sicher, dass mein Haar in Flammen stehen würde. Ich schrie Chris an, er solle es löschen, aber er sagte mir: ´Dad, du brennst nicht.´.« Das Vater-Sohn-Pärchen verlässt den Ort des Schreckens. Die Luft stinkt nach Qualm und Tod. Als sie zu Hause ankommen, treffen sie auf die völlig ahnungslose Mutter. »Sie hatte das Spiel nicht gesehen und wusste nicht, was los war.« Tony muss ins Krankenhaus, einige Verbrennungen sind doch zu stark. Im Warteraum fragt er seinen Nebenmann nach dessen Verletzungen. »Er erklärte mir, dass er seine Brille nicht mehr bewegen könne. Sie sei ihm durch die Hitze in Nase und Ohren eingeschmolzen.« Tony Hammond verlässt das Krankenhaus wieder. »Spätestens da merkte ich, wie viele Menschen die ärztliche Hilfe nötiger hatten als ich.« Am Ende zählen die Helfer mehr als 265 zum Teil schwer verletzte und zur Unkenntlichkeit verbrannte Personen. Im Stadion sucht Bradford-Spieler Stuart McCall noch immer seinen Vater. Endlich findet er ihn. Schwer verwundet, einen notdürftigen Verband um den Kopf, Arme und Brust. Aber er lebt.



Erst als der letzte Funken verloschen ist, wird in Bradford das Ausmaß der Tragödie sichtbar. Die Haupttribüne ist komplett abgebrannt und hat 56 Menschen das Leben gekostet. Erstickt, verbrannt, erdrückt. Eine noch glimmende Zigarette, die in einem Plastikbecher achtlos zwischen die Holzbohlen geworfen wurde, so das Gutachten, habe im unter der Tribüne angehäuften Müll ein Feuer verursacht. Alle Versuche, den Brand noch im Keim zu ersticken, scheiterten auch daran, dass sämtliche Feuerlöscher in Sitzplatznähe vor dem Spiel abmontiert worden waren. Aus Angst vor Vandalismus. Das trockene Holz entwickelte sich in wenigen Minuten zu einem riesigen Flächenbrand, die leicht entzündbare Dachpappe verursachte Explosionen, Feuerballen und brennende Teerfetzen, die von oben auf die flüchtenden Fans tropfte. Viele der Toten hätten trotzdem gerettet werden können – wenn nur die Ausgänge nicht versperrt gewesen wären. Die meisten Opfer waren vor geschlossenen Eisen-Drehkreuzen in tödliche Fallen gelaufen.

Das als »Valley Parade Fire Disaster« in die Fußball-Geschichte eingegangene Drama jährt sich heute zum 25. Mal. In Bradford werden Tausende den Toten gedenken – und auch den Helden. Die Geschichte vom 11. Mai 1985 ist auch eine der menschlichen Nächstenliebe. Fußballer, die Zuschauern auf den sicheren Rasen halfen und sich dabei selbst starke Verbrennungen zuzogen. Junge Hardcore-Fans, die brennenden Rentnern die Flammen auf Köpfen und Jacken löschten und kleine Kinder aus der Gefahrenzone schafften. »Ich sah junge Punks, die sich schon gerettet hatten und noch mal auf die brennenden Tribünen liefen, um anderen Fans zu helfen«, erinnert sich Joyce Reisner. Auch sie wird heute in Bradford sein, gemeinsam mit ihrem Mann, der ein Denkmal für die Toten gestaltete. Die Skulptur steht in zweifacher Ausführung jeweils vor dem Rathaus von Bradford und Hamm. Die Hilfe der Mitbürger und entsetzten Zuschauer vor dem Bildschirm war schon wenige Tage nach der Katastrophe einzigartig. 48 Stunden nach dem Brand hatte man bereits einen Hilfsfond eingerichtet. Als Folge aus den unzähligen Verbrennungsopfern richtete die University of Bradford die »Plastic Surgery and Burns Research Unit« ein – heute gehört die Spezialklinik für Hauttransplantationen zu den besten der Welt. Mit sichtbaren Erfolg. Joyce Reisner erzählt die Geschichte einer Frau, die am 11. Mai 1985 mit zehn Jahren von Kopf bis Fuß schwerste Verbrennungen erleiden musste – inzwischen arbeitet sie als Stewardess bei der Fluglinie KLM.

Wie viele seelische Narben das Desaster von Bradford hinterlassen hat, kann 25 Jahre danach niemand sagen. Martin Fletcher, der Junge, der vier Familienmitglieder verlor, wurde in den Jahren nach dem Unglück auch seiner Jugend beraubt. Tragödien brauchen Helden und die englische Presse machte Martin Fletcher zum unschuldigen Gesicht der Überlebenden. »Die Presse feierte mich als ´tapfersten Jungen Großbritanniens´, vier Jahre fand ich mein Gesicht beinahe wöchentlich in irgendwelchen Zeitungen.« Das Schicksal hat es dem Fußball-Fan auch später nicht einfach gemacht: Im April 1989 ist der Nottingham-Supporter wieder bei einem Fußball-Spiel. Forest spielt gegen den FC Liverpool. Das Stadion heißt Hillsborough…