"Mann, der Grote"
Als ich 1993 nach Italien zog, fischte ich erneut das ganz große Los. Natürlich erschlug mich an der Uni Bochum die Liebe nicht bei einem Mädel aus der Stadt des Rekordmeisters Juventus oder dem globalen Titelabräumer Mailand. Es musste Bologna sein. Schließlich führt man dort auch "BO" auf dem Nummernschild. Bei meinem ersten Stadionbesuch in der Arena "Dall'Ara" stieg der Klub in die Serie C ab.
Wie dem auch sei, der vergangene Samstag entpuppte sich zu einem Schreckens-Szenario. Bologna und Bochum spielten am selben Tag auswärts gegen die jeweils amtierenden Landesmeister Bayern und Inter.
Auf der mittäglichen Einladung zum Grillfest bei Freunden ging mein minütlicher Blick um 17 Uhr dann doch vom Livescore des Handys zur Salsiccia, der italienischen Bratwurst, als es in der Allianz-Arena 3:1 stand. Um 17.10 Uhr rief mein Bruder an: "Der Grote, jaaaaaaa, VfL, wieder da, der Grote, Bochum 3, jaaaa, scheiße, Ecke für Bayern?." Meine Salsiccia taumelte umher wie Herr Rensing, und ich röchelte: "Der Groteeeee!", worauf der italienische Teil der Party irritiert aufschaute, meine englischen Kumpels Michael und Richard aber vorbildlich riefen: "Come on the Botschum!"
Vom Grill in Bologna ging es mit meiner Frau abends nach Verona zum Konzert einer der populärsten Rockgruppen Italiens – Ligabue. Wäre der Kopf der Band nicht Inter-Fan, wäre die Kombo makellos. "Mann der Grote, 3:3, bei den Bayern!" sagte ich dermaßen oft im Delirium, dass mich die Gattin am liebsten per Tritt aus dem Wagen befördert hätte. Den Gedanken gab sie nur auf, weil sie keinen Führerschein besitzt.
Ein Lied von Ligabue heißt "Tra palco e realtà" (Zwischen Bühne und Realität). Ein treffender Titel. Denn als die letzten Noten des Songs gegen 22.20 erklangen, erfuhr mein gefühlt 2000. Blick aufs Handy: Risultato finale da San Siro, Inter 2 – Bologna 1. Beide Meister an einem Tag in die Schranken zu weisen, war auch eine anmaßende Hoffnung.
"Warum warst du eigentlich so gelassen, als Bologna verloren hat?" fragte meine Frau auf der Rückfahrt nach Florenz. "Aus Erfahrung", sagte ich beiläufig und tröstete mich bei Partien gegen Inter wie immer mit dem Gedanken an 1964.
Mit Helmut Haller gewann Bologna gegen die Nerazzurri damals in Rom das erste und einzige Entscheidungsspiel um den Scudetto. Vier Tage zuvor war der Presidentissimo Renato Dall'Ara nach 30-jähriger Amtszeit verstorben. Autor Frank Goosen schrieb einmal von seiner Hoffnung, bei großartigem Sex zu sterben. Von einem solch eleganten Abtritt können natürlich nicht viele prahlen. Wer auch immer für die Ansetzung der Abschiedsdaten verantwortlich ist, sollte sich schämen. Vier Tage vor einem Meisterschaftsgewinn????
Ähnliches dachten sich wohl 1987 einige Fans von Napoli, die ein ungünstiges Datum erwischt hatten. Damals gewannen die Azzurri ihren ersten Scudetto und jemand malte auf die Friedhofsmauern: "Ihr wisst nicht, was ihr verpasst habt!" Lieben Dank auch, das wussten sie sicher.
Und so haben Bochum und Bologna eben doch ihre charmanten Vorteile. So etwas kann mir mit den beiden Teams nicht passieren, dachte ich spätnachts im Bett und schlief mit einem letzten "Mann, der Grote" zufrieden ein.
Oliver Birkner lebte bereits von 1993 bis 1999 in Bologna. Nach seiner Zeit beim kicker in Deutschland (2004 - 2007) entschloss er sich aus Nostalgie wieder auf die Halbinsel zurückzukehren. Nun berichtet er als Korrespondent für kicker Print und Online aus seiner neuen Heimat Florenz.